Mein erster Schultag
Da ich auf meinem Schulweg ganze zwei Mal umsteigen darf, musste ich mich also drei Mal mit Anlauf in eine schwitzende Menschenmasse drängen. Wer macht das nicht gern? Das dritte Mal ersparte ich mir dann aber, weil die letzte Metrostrecke irgendeine Störung hatte und die Leute bis in den Gang hinaus anstanden (siehe Foto). Da wurde es mir zu viel und ich beschloss, dass ich dann doch lieber vom Regen nass werden würde als vom Schweiss anderer Leute und ging zu Fuss weiter. Kaum hatte ich ein paar Meter überirdisch hinter mich gelegt, schaltete der Himmel von „starker Regen“ auf „Sintflut“ um und innerhalb von zwei Minuten stand mir das Wasser in den Schuhen. Zwar war meine Chance auf einen guten, ersten Eindruck mit meiner Frisur davon geschwemmt worden, aber zumindest hatte ich meinen neuen Schirm benutzen können. Und der Tag konnte von da an nur noch besser werden.
Später an diesem Morgen hat mich der Rektor durch alle Klassen geführt und mich in jeder einzelnen in einem fünfminütigen Vortrag vorgestellt. Da konnte mal wieder den Unterschied zu unserem Schulsystem in der Schweiz spüren: Als der Rektor eintrat, herrschte sofort eine respektvolle Stille. Dann sprach er mühsam leise, damit man sich auch ja wahnsinnig konzentrieren musste, um diese extrem wichtige Mitteilung zu hören. Er hatte vorher extra geübt, meinen Nachnamen auszusprechen, aber es klang immer noch mehr nach Madame Uuuunziger.
Hier habe ich grösstenteils auf Deutsch seine Rede festgehalten:
Rektor: Dieses Jahr haben wir die aussergewöhnliche Chance, Madame Hunziker bei uns zu haben, sie ist Assistentin für Deutsch und wird an unserer Schule jeeeeede Woche ganze zwölf Stunden unterrichten. C’est une chance éxceptionelle! Madame Hunziker kommt extra aus der Schweiz hier her nach Paris, damit sie mit euch Deutsch üben kann. Deutsch ist ihre „langue maternelle“ (Muttersprache). Qui sait ce que c’est une langue maternelle? (Wer weiss, was eine langue maternelle ist ?)
Fast alle Kinder halten die Hand hoch und der Rektor wählt eines aus.
Kind: Das ist die Sprache, die man bei den Maternelles spricht!
Michelle lacht, verklemmt sich das Lachen aber sofort wieder, als sie den ernsten Blick des Rektors sieht)
Rektor: Nein.
Der Rektor fragt noch vier bis fünf weiter Kinder, bis er schliesslich selber erklärt was eine Muttersprache ist.
Rektor: Deutsch ist die Muttersprache von Madame Hunziker, weil sie aus dem Teil der Schweiz kommt, wo sie Deutsch reden. Madame Hunziker hat also ein „savoir énorme de la Suisse et de la langue Allemand.
Michelle: verkneift sich bei dem Wort « énorme » wieder das Lachen, scheitert aber und entscheidet sich, es als freundliches, etwas zu breites Lächeln zu tarnen.
Rektor: Il faut donc profiter le maximum de la présence de Madame Hunziker! Ich will nicht, dass ihr bei ihr Dummheiten macht. Wer nicht gut mitmacht, darf nicht mehr in ihrer Gruppe sein, sondern nur noch bei Madame Ferry oder Monsieur Duplex und wer da auch nicht folgsam ist, der wird aus dem Deutschunterricht verbannt, ja verbannt, und verbringt dann die Stunden bei mir anstatt im Unterricht…
Michelle: Zieht eine Augenbraue hoch und schaut den Rektor skeptisch an, wird von ihm aber nicht bemerkt und versucht wieder freundlich und motiviert in die Runde zu schauen.
Rektor: … Wenn ihr des Bêtises macht, hindert ihr die anderen daran, möglichst viel von Madame Hunzikers Anwesenheit zu profitieren und man muss wirklich von Madame Hunziker rund ihrem enormen Wissen profitieren…
Zwischenfrage? Liest hier überhaupt noch jemand? Irgendwann habe ich einfach abgehängt und stattdessen die Kinder und die Klassenzimmer studiert. Wie oft kann man den bitte die Wörter „exceptionelle, énorme und profiter“ innerhalb von fünf Minuten brauchen? Sehr oft. Zu oft. Ich erspar euch jetzt den Rest der Drohungen bezüglich Ausschluss vom Unterricht und auch den Rest des Lobliedes auf mich. Ihr könnt euch ja selber ausdenken, wie ihr jemanden anpreisen würdet, den ihr erst zwei Mal zehn Minuten vorher gesehen habt und über den ihr nichts wisst: mit viel leeren Worten.
Am Ende jeder Rede kam folgende Szene:
Rektor: On a dit tout?
Michelle : Oui, je pense. Je suis très contente de travailler avec vous et - à bientôt !
Und die Klasse immer so im Chor : à bientôt Madame Hunziker!
Die Schule hat einen sehr guten Ruf und unser Rektor hat schon mehrere Bücher publiziert. Er war sehr, sehr freundlich zu mir, hiess mich herzlich willkommen und hielt mir jede Türe auf. Absolut jede, egal wie umständlich es war. Ausser einmal nicht, weil die Türe so schwer aufging und er mich nicht vorlassen konnte. (der Boden war irgendwie gebogen und die Türe liess sich nur sehr schwer öffnen. Das verstösst bestimmt gegen die Brandschutzsicherheitslinien) Da entschuldigte er sich dann aber dreimal dafür, als ob mir das aufgefallen wäre.
Aber ja, es gab mir das Gefühl, wichtig zu sein. Ich meine, wem hält man heut zu tage schon noch jede Türe auf? Dem Papst auf seinem Papstmobil? Barak Obama? Der Queen? Und mir.